Gewalt gegen Frauen auf Borkum - oder die Frage danach: Wie weit dürfen Tradition und Brauchtum gehen?
Traditionen und Bräuche sind für Kulturen und Gesellschaften maßgeblich identitätsstiftend. Doch nicht jeder Brauch lässt sich mit den heutigen Vorstellungen von Moral, Zivilisiertheit und Gleichberechtigung in Einklang bringen. So auch auf Borkum, wo beim "Klaasohm"-Fest u.a. Frauen gezielt gefangen und mit einem Kuhhorn geschlagen werden. Ein aktueller Bericht darüber sorgte landesweit für Kritik. Und genau über dieses Thema wollten auch wir mit der gutefrage Community im Zuge der Meinung des Tages einmal genauer sprechen.

Von fragwürdigen Bräuchen...
Karneval / Fasching, Maibaumaufstellen, Nikolaus, Hallooween, Día de los Muertos oder Holi - in allen Kulturen weltweit gibt es eine Vielzahl an unterschiedlichen Bräuchen, Traditionen und Ritualen, die insbesondere für Außenstehende oftmals nicht ganz nachvollziehbar sind.
Doch Bräuche und Traditionen spielen für die kulturelle Identität von Gesellschaften eine ganz maßgebliche Rolle, da in diesen gemeinsame Werte, Normen und Überzeugungen widergespiegelt und konserviert werden. Indem Menschen unterschiedlichster Generationen durch diese zusammenfinden, wird das Gefühl von Zugehörigkeit und Verbundenheit untereinander maßgeblich geformt und gestärkt. Darüber hinaus dienen Bräuche dazu, soziale Ordnung und Orientierung zu vermitteln und das kulturelle Erbe in einer zunehmend globalisierten Welt zu bewahren bzw. das Fortbestehen zu sichern.
Und auch auf der beliebten Nordseeinsel Borkum, die alljährlich von zahlreichen deutschen und ausländischen Touristen besucht wird, gibt es einen ganz speziellen Brauch:
Das sogenannte "Klaasohm"-Fest wird Jahr für Jahr in der Nacht vom 05. auf den 06. Dezember von den Einheimischen der Insel gefeiert. Veranstaltet wird das Ganze vom Verein Borkumer Jungens, welcher ausschließlich Männer über 16 Jahren aufnimmt. Zum besagten Fest werden insgesamt sechs aus ihren Reihen für das Fest zu "Klaasohms" ernannt und ziehen als kostümierte Fabelwesen mit Fellmasken, Gewändern und Kuhhörnern über die Insel. Begleitet wird der Trupp ferner von einem Mann in Frauenkleidern, dem "Wiefken", sowie weiteren Mitgliedern des Vereins, die als Fänger fungieren.
Selbstverständlich wird, wie es bei so manchem Brauch Usus ist, während des Festes ausgiebig gefeiert und getrunken. So weit, so gut. Möchte man zumindest meinen, denn der rauschig-verrückte Brauch bringt da noch einen Aspekt mit sich, von dem Außenstehende bestenfalls nichts mitbekommen sollen: Teil des Fests ist eine abendliche Jagd über die Insel, bei dem Frauen das Objekt der (männlichen) Begierde darstellen. Die unterstützenden Fänger jagen Frauen durch die Straßen und halten diese nach erfolgreicher Jagd fest. Unter frenetischem Beifall der anwesenden Insulaner werden die Frauen dann von den "Klaasohms" mit Kuhhörnern öffentlichkeitswirksam auf den Hintern geschlagen.
Über den Ursprung des Festes gibt es unterschiedliche Vermutungen. Tatsächlich werden in diesem teilweise Elemente des Nikolausfestes als auch des germanischen Wodanfests vermischt. Die gewaltvolle und frauenfeindliche Komponente könnte auf die Zeit des Walfangs zurückzuführen sein. Vorstellbar ist, dass der gewalttätige Brauch als Ritus einer "Rückeroberung" der Insel aus den Händen der Frauen hervorgegangen sein könnte.
Gefeiert wird das "Klaasohm"-Fest seit über 200 Jahren. Doch seit dem kürzlich veröffentlichten Bericht von Panorama und STRG_F ist auf der Insel nichts mehr so, wie es zuvor einmal gewesen ist...

Youtube-Video von STRG_F schlägt hohe Wellen
Aber kann es denn wirklich sein, dass Frauen im Zuge eines Festes auf Borkum aus Tradition und zum Spaß verprügelt werden? Genau dieser Frage ging das Team des ARD-Magazins "Panorama" im vergangenen Jahr auf der Insel nach.
Mit versteckten Kameras dokumentierten die Reporter das turbulente und feucht-fröhliche Geschehen der letztjährigen Dezembernacht und hielten in mehreren Einstellungen fest, wie gefangene Frauen - teils sehr gewaltsam - mit Kuhhörnern auf den Hintern geschlagen wurden. Etwaige Empörung oder Verwunderung über das Ausmaß der brachialen rituellen Handlung konnte seitens der anwesenden Inselbewohner nicht erkannt werden; im Gegenteil! Sowohl Jung als auch Alt beklatschte im Trubel der ausgelassenen Feierstimmung den zweifelhaften und durchaus frauenverachtenden Akt im schabernack'esken Gewand.
Innerhalb des Berichts, der via STRG_F auf Youtube veröffentlicht wurde, äußerten sich ein paar Frauen, die anonym von ihren Erfahrungen beim "Klaasohm" berichteten. Dabei erzählten manche von ihnen von schweren körperlichen Beschwerden und Misshandlungen, die sie durch die Schläge oder die Festsetzung von den männlichen und zumeist alkoholisierten Insulanern erfuhren.
Das Video selbst schlug bereits wenige Stunden nach Veröffentlichung bundesweit hohe Wellen und hat mittlerweile über 1 Millionen Aufrufe. Viele Internetnutzer zeigten sich angesichts der demonstrierten und zelebrierten Gewalt und Frauenverachtung geschockt. Kritisiert wurde das Treiben auf Borkum auch von der niedersächsischen Landesregierung. Die Staatssekretärin im Sozialministerium, Christine Arbogast, verwies einerseits auf den hohen Stellenwert von Brauchtum und Traditionen, machte andererseits jedoch klar, "dass alles da sein Ende findet, wo sich Frauen unsicher fühlen und Angst vor körperlicher Züchtigung haben" müssen.
Problematisiert wurde weiterhin, dass die ca. 5.000 Einwohner der Insel über das, was auf dem "Klaasohm" geschieht, am liebsten den Mantel des Schweigens hüllen würden. Einblicke in die Vereinsstatuten offenbarten klar, dass über den Brauch - vor allem Nicht-Borkumern gegenüber - geschwiegen werden sollte. Das Anfertigen von Filmaufnahmen, z.B. mit dem Smartphone, wird strengstens untersagt.
Wie tief verankert der Brauch für die Menschen auf Borkum ist und wie sehr man sich womöglich davor fürchtet, dass dieser durch negative Berichterstattung beeinträchtigt werden könnte, zeigte sich weiterhin dadurch, dass weder der amtierende Bürgermeister, noch die hiesige Polizeidienststelle oder die Gleichstellungsbeauftragte für ein Interview zur Verfügung standen.

Nach teils heftiger Kritik - Fest wird in diesem Jahr anders ablaufen
Wie sah es nach der Veröffentlichung des Youtube-Videos auf Borkum aus? Wie stehen die Borkumer und Borkumerinnen zum umstrittenen "Klaasohm"? Ein Gros der Menschen auf der Insel erfreut sich alljährlich an den lustig-ausschweifenden Feierlichkeiten und betont dabei insbesondere den identitätsstiftenden Charakter des Brauchs. Selbst jene, die ursprünglich aus Borkum stammen, aber mittlerweile nicht mehr auf der Insel leben, kehren häufig Anfang Dezember zurück, um mit ihren Freunden und Verwandtschaft am heiteren Trubel teilzunehmen.
Gewalt oder frauenverachtende Exzesse jeglicher Art werden selbstverständlich von den Allermeisten klar abgelehnt bzw. verurteilt. Außerdem wird auf den Umstand verwiesen, dass allen Frauen der Insel klar sei, was ihnen ab einer gewissen Uhrzeit eventuell "blühen" könnte. Wer explizit nicht am Katz-und-Maus-Spiel teilnehmen möchte, solle im besten Falle Zuhause bleiben.
Kurz nach dem bundesweiten Aufschrei versammelten sich auf Borkum 150-200 Frauen, um sich auf einer spontan einberufenen Versammlung friedlich, aber deutlich, für den Erhalt der für die Inselbewohner Borkums wichtigen Tradition stark machten.
Auf einer eilig einberufenen Bürgerversammlung entschied man sich dafür, das für die Borkumer wichtige Fest - trotz des öffentlichen Drucks - auch in diesem Jahr stattfinden zu lassen. Zusätzliche Polizeipräsenz soll zudem für die Sicherheit der (weiblichen) Besucher sorgen. Frauen, die Gewalt oder Körperverletzungen erfahren, werden seitens der Polizei angehalten, diese konsequent anzuzeigen.
Auf die Schläge allerdings, wolle man den Ausrichtern des Festes zufolge komplett verzichten. Ein Sprecher der Borkumer Jungens appellierte an die Inselbewohner, sich allen Anwesenden gegenüber respektvoll und freundlich zu verhalten. Wichtiger sei es, sich ausschließlich auf das zu konzentrieren, "was das Fest wirklich ausmache: den Zusammenhalt der Insulanerinnen und Insulaner".

Wie weit dürfen Tradition und Brauchtum gehen? Die gutefrage Community diskutiert
Wie zuvor beschrieben besitzen Traditionen und Bräuche für die Menschen in Gemeinschaften eine ganz essenzielle Rolle. Doch wie sieht es aus, wenn andere Menschen eventuell unter einem Brauch zu leiden haben? Unsere Nutzer haben hierzu ganz unterschiedliche Meinungen.
Die Nutzer critter, Thomas Richter und Apokalypse2020 kritisieren vor allem, dass derartige Feste (von Männern) dahingehend genutzt werden, ungeniert über die Stränge zu schlagen:
Den Bericht habe ich auch gesehen und er hat mich ziemlich entsetzt. Entsetzt daher, weil immer Frauen dafür herhalten müssen, wenn Männer sich austoben wollen. Wenn das Tradition ist, soll sie unbedingt abgeschafft werden. Die sündige Frau, die für irgend etwas büßen soll, darf es einfach nicht mehr geben, Tradition hin oder her. Sollen die Kerle sich doch hölzernes Strandgut aussuchen und da drauf eindreschen, dann gibt es auch keine blaue Flecken von den Kerlen, die keine Grenzen kennen. Und auf die Idee, für diesen "Spaß" evtl. Tiere herzunehmen, sollen sie bloß nicht kommen. Hier geht es mir nicht nur um Borkum, sondern um alle Bräuche, bei denen jemand "gezüchtigt" wird, da es immer Auswüchse gibt.
Ich persönlich habe dieses Fest zwar nie verfolgt, aber es sollte immer das vermittelt werden, was eigentlich vermittelt werden sollte. Ob es hierzu dringend nötig ist das zu tun, müssen die wissen, die sich damit auskennen.
Für mich liegt das Problem aber nicht am Fest selber, sondern an den Leuten, die die "Sau rauslassen" wollen. Meistens wird an so Festen auch ordentlich gesoffen, dann sollte man so Events, die mit Schlagen einhergehen, eben ohne alkoholisierte Menschen durchführen, z.B. durch eingeweihte Teilnehmer des Veranstalters und sonst niemand. Alkohol enthemmt nun mal, das ist doch an Silvester nichts anderes wenn Betrunkene meinen sie müssen ihre Böller möglichst lang in der Hand halten und dann um 0.30 Uhr Mitarbeiter der Notaufnahmen beschäftigen.
Thema was halte ich davon: eigentlich grundsätzlich überhaupt nichts, denn alle derartigen Events sind nur für Entertainment und Geldmacherei ins Leben gerufen worden, z.B. Weihnachtsmärkte oder auch Silvester. Wenn ich Geld ausgeben will oder mit die Zeit vertreiben will weil ich sonst nichts besseres zu tun habe gehe ich dort hin. Die Weihnachtsmärkte heutzutage haben eigentlich nur noch wenig mit der Tradition zu tun, überall werden Fressalien zu Horrenden Preisen verkauft, ansonsten Sachen von Temu für das 10fache des Preises.
Aber wahrscheinlich ist es einfach das, was die Bevölkerung will, 50€ für Essen und Trinken ausgeben (Glühwein aus dem 5L-Tetrapak usw.) und anschließend für maximal 3€ noch eine möglichst billige Figur für ihre Krippe daheim.
Wenn ich wirklich was über Tradition lernen möchte, geh ich nicht dort hin, sondern informiere ich mich Zuhause darüber, z.B. übers Internet.
Mir kommt vor, dass man viele schlechten Sachen gerne mit Brauchtum rechtfertigt. Siehe Stierkampf. Ich lehne Gewalt grundsätzlich ab und finde diesen Brauch auf Borkum mehr als befremdlich. Wenn manche Frauen da gerne mitmachen, dann sollen sie das klar sagen oder mit einem Zeichen zeigen. Man könnte auch einen bestimmten Ort dafür ausmachen, wo alle, die mitmachen wollen, hingehen. Was aber gar nicht geht, ist Frauen durch die Stadt zu jagen und schwer zu verletzten. Ich mein, machen die das auch mit Mädchen, mit Schwangeren, kranken oder alten Frauen? Traurig, dass Männer Spaß daran haben, sich wie Wilde aufzuführen. Geht gar nicht!
Auch die Nutzer Avicenna89, Abdulfragt12345, StRiW und bwhoch2 problematisieren ebenfalls die Komponente der Gewalt und bemängeln, dass derartige Bräuche teils antiquiert sind. Dennoch sprechen sich einige dafür aus, dass die Tradition in abgemildeter Form fortbestehen sollte:
Bräuche und Traditionen sind nur so lange sinnvoll wie sie im Zeitgeist noch schützenswerte Botschaften enthalten. Die Botschaft, dass jemand von einer Bootsreise heimkommt und sein Umfeld gewaltsam züchtigen muss ist in keiner Hinsicht schützenswert, da sie nicht auch nur in irgendeiner Form mit den heutigen Normen und Werten vereinbar ist.
Ähnlich kritisch sehe ich auch das Schlagen mit Ruten auf Krampusläufen.
Meine Meinung zur Demo? Wenn 200 - 300 Leute für den Erhalt demonstrieren, ist das eine Seite. Borkum hat über 5000 Einwohner, das ist die andere. Die fünf Prozent können ja irgendwo eine Festhalle anmieten und dort ihren Brauch so pflegen, wie ihn die Walfänger mal eingeführt haben.
Dass diese Veranstaltung nach den Medienberichten abgeändert wurde, ist durchaus positiv zu bewerten. Man darf sich fragen, warum das noch nicht früher passiert ist, aber ich habe durchaus Verständnis davor, dass Traditionen aus dem Kreis derer, die sie pflegen, oft nicht hinterfragt und gar verteidigt werden. Hier herrscht sowas wie beim Alkoholismus die sogenannte "Co-Abhängigkeit". Man meidet den Konflikt mit dem Alltäglichen, trägt vieles mit, stellt aber dann die Absurdität der Situation fest, wenn man von Außenstehen darauf angesprochen wird.
Welche Bedeutung haben Bräuche dort, wo ich herkomme? Niemand ist an Bräuche gebunden. Es gibt zwar welche, die man schön begehen kann, aber eben auch unangenehme.
Traditionen sollten nicht zu Gewalt führen! Ein Brauch, bei dem Frauen geschlagen werden, ist echt problematisch. Es ist gut, dass der Brauch jetzt geändert wird. Traditionen sind wichtig, aber sie müssen respektvoll und für alle okay sein. Manche Frauen auf Borkum wollen den Brauch wohl behalten, aber der Zusammenhalt sollte auch ohne Schläge gefeiert werden
Lg, Abdul
Auch den Borkumern ist es Bewusst, das dieser Brauch nicht mehr zu heutigen Zeit passt.
Sonst hätte man, diesen schon lange zum Magnet für Touristen gewandelt.
Wie bei allen dieser Bräuche ist es eine Sache wie geht man mit jenen um, die eben nicht dran teilnehmen wollen?!?
Der Brauch kann ja bestehen bleiben, wird eine Frau belästigt die das nicht will, gibt es die üblichen rechtlichen Schritte und die Polizei muss den Übeltäter ermitteln.
Hier sollte man es so lösen, der Brauch darf bestehen bleiben, wird eine Frau oder ein Mädchen betroffen, die damit nicht überein geht, muss der Verein erheblichen Schmerzensgelder zahlen, der Vorstand persönlich mit seien Privatvermögen dafür einstehen, wenn der Übeltäter nicht mitspielt.
Der Brauch soll ruhig weiter bestehen. So lange sich die Frauen gerne schlagen lassen, ist dagegen nichts einzuwenden. Fragwürdig wird es aber, wenn sie dabei auch noch übel zugerichtet werden. Man kann sich vorstellen, was Alkohol bei so einem "Fest" alles bewirken kann.
Die Männer sollten sich zumindest soweit im Griff haben, dass sie die Frauen nicht ernsthaft verletzen.
Du siehst: Das Thema "Klaasohm" hat auch die gutefrage Community beschäftigt. Hast auch Du einen bestimmten Standpunkt, den Du mit unseren Nutzern diskutieren möchtest? Dann wirf gerne noch einmal einen Blick auf unsere Meinung des Tages.